Gedanken eines Sterbebegleiters

Liebe Freunde,

Nach etwa zwei bis drei Monaten des Sorgens für den anderen wird allmählich ein besonders heimtückisches Problem erkenn­bar. Die äußeren, handgreiflichen, sichtbaren Aspekte der Fürsorge sind relativ leicht zu bewältigen. Man teilt sich, wenn man kann, seine Arbeit anders ein; man gewöhnt sich ans Kochen, Waschen, Putzen oder was sonst notwendig sein mag zur Versorgung des geliebten Menschen: Man fährt ihn zum Arzt, man hilft mit den Medi­kamenten und so weiter. Auch das kann schwierig sein, aber wenigstens liegen die Lösungen klar auf der Hand - man nimmt die zu­sätzliche Arbeit entweder selber auf sich oder sorgt dafür, daß jemand anderes sie tut.
Schwieriger und wirklich heimtückisch ist für den Helfer jedoch der seelische Druck, der sich jetzt allmählich aufbaut. Dieser innere Kampf hat zwei Seiten, eine private und eine öffentliche. Zunächst die private: Der Helfer weiß, daß alle seine Probleme, wie viele es auch sein mögen, Lappalien sind gegen die lebensbedrohende Krankheit des geliebten Menschen. Also spricht er einfach nicht davon - wochenlang, monatelang. Er hält sie unter Verschluß. Man möchte den geliebten Menschen nicht beunruhigen, man möchte ihm seine Lage nicht noch erschweren, und man sagt sich immer wieder: «Na ja, wenigstens habe ich keinen Krebs; meine eigenen Probleme können so schlimm nicht sein.»
Das geht ein paar Monate so (je nach Veranlagung), und dann dämmert dem Helfer allmählich: Die Tatsache, daß meine Probleme klein sind, etwa im Vergleich zu Krebs, erledigt sie nicht. Sie werden sogar schlimmer, denn jetzt sind es eigentlich zwei Probleme: das ursprüngliche Problem und dann die Tatsache, daß man es nicht äußert und daher auch keine Lösung dafür finden kann. Die Probleme schwellen an, man verstärkt den Verschluß, sie stem­men sich mit wachsender Kraft dagegen. Allmählich wird man ein bißchen komisch. Wer introvertiert ist, bekommt kleine Zuckungen, wird kurzatmig, Angst kriecht in ihm hoch, er lacht zu laut, er trinkt ein Bier mehr als sonst. Wer extrovertiert ist, explodiert plötzlich auf nichtige Anlässe hin, bekommt Wutanfälle, stürmt aus dem Zimmer, wirft mit Gegenständen, trinkt ein Bier mehr als sonst. Der Introvertierte möchte manchmal sterben, der Extrovertierte möchte manchmal, daß der geliebte Mensch stirbt. Der Introvertierte möchte manchmal sich selbst umbringen, der Extrovertierte den an­deren. In beiden Fällen liegt Tod in der Luft, Zorn, Groll und Bitterkeit schleichen sich unweigerlich ein - und schreckliche Schuldgefühle, weil man überhaupt solche finsteren Gefühle hat.
Solche Gefühle sind unter den gegebenen Umständen aber völlig normal und natürlich. Ich fände es sogar bedenklich, wenn ein Hel­fer sie nicht gelegentlich hat. Und man wird mit ihnen am besten fertig, wenn man über sie redet. Das kann nicht nachdrücklich genug betont werden: Darüber reden ist die einzige Lösung.
Und hier beginnt die öffentliche Seite der seelischen Schwierigkeiten eines Helfers. Man kommt zu der Einsicht, daß man reden muß; aber mit wem? Der Kranke ist vermutlich nicht der beste Gesprächspartner, denn häufig ist er ja das Problem des Helfers, bedeutet eine schwere Belastung für ihn; man möchte dem Kranken natürlich kein schlechtes Gewissen machen, möchte ihm nicht den Schwarzen Peter zuschieben, auch wenn man ihm vielleicht übelnimmt, daß er krank geworden ist.
Eine Selbsthilfegruppe von Leuten, die ähnliches erleben, also eine Selbsthilfegruppe für Helfer, ist bei weitem der beste Ort, um sich auszusprechen. Auch Einzeltherapie oder Partnertherapie kann sehr nützlich sein. Ich komme gleich darauf zurück. Zunächst einmal ist es so, daß Helfer - und bei mir war das nicht anders - sich im allgemeinen nicht sofort solche Möglichkeiten zunutze machen, sondern warten, bis viel Schaden angerichtet und viel sinnloser Schmerz zugefügt ist. Ein normaler Helfer tut zunächst einmal das Naheliegende: Er spricht mit Verwandten, Freunden, Verbündeten. Und da macht er Bekanntschaft mit dem öffentlichen Problem. Worin es besteht, hat Vicky Wells auf den kurzen Nenner ge­bracht: «Niemand interessiert sich für chronische Dinge.» Und sie meint damit dies: Ich komme mit einem Problem zu dir; ich möchte reden, ich möchte Rat, ich möchte ein bißchen Trost. Wir reden, du bist sehr freundlich, verständnisvoll und hilfsbereit. Mir geht es bes­ser, du hast das Gefühl, mir geholfen zu haben. Aber am nächsten Tag hat meine Frau immer noch Krebs; die Lage ist nicht grundlegend besser geworden, vielleicht sogar schlechter. Mir geht es über­haupt nicht gut. Ich treffe dich zufällig. Du fragst mich, wie es geht; wenn ich ehrlich bin, sage ich: miserabel. Wir reden also wieder mit­einander. Du bist wieder sehr hilfsbereit, freundlich und verständnisvoll, und gleich geht es mir besser . . . bis zum nächsten Tag, wenn sie immer noch Krebs hat und eigentlich gar nichts besser ist. Tagein, tagaus ist an der Situation selbst eigentlich nichts zu ändern (die Ärzte tun zwar, was in ihrer Macht steht, aber sie könnte trotzdem sterben). Also fühlt man sich tagein, tagaus ziemlich elend, die Sache wird einfach nicht besser. Und früher oder später stellt man fest, daß fast jeder, der nicht selbst tagtäglich vor dieses Problem gestellt ist, allmählich etwas ungeduldig wird, wenn man immer wei­ter darüber redet. Fast alle außer den wirklich besten Freunden wei­chen einem auf subtile Weise aus, weil ja doch immer nur Krebs als dunkle Wolke über dem Horizont hängt, um einem den ganzen Tag zu versauen. Man wird ein chronischer Jammerlappen, und die Leute haben es einfach satt, immer wieder die gleichen Probleme anhören und durchkauen zu müssen. Daher: «Niemand interessiert sich für chronische Dinge.»
Früher oder später kann sich der Helfer des Eindrucks nicht mehr erwehren, daß seine privaten Probleme ihm über den Kopf wachsen, die öffentliche Lösung aber irgendwie nicht recht funktioniert. Er fühlt sich völlig alleingelassen und isoliert. Hier tritt dann meist einer der folgenden Fälle ein: Er haut ab, er bricht zusammen, er greift zu Alkohol und Drogen, oder er sucht professionelle Hilfe.
Eine Selbsthilfegruppe, sagte ich, ist bei weitem die beste Anlaufstelle. Wenn man bei einer solchen Gruppe mal zuhört, stellt man fest, daß hier vorwiegend über die lieben Kranken gemeckert wird:
«Was bildet der sich ein, mich so herumzukommandieren?» -«Glaubt die vielleicht, was Besonderes zu sein, nur weil sie krank ist? Ich hab schließlich auch meine Probleme» - «Mir kommt es so vor, als hätte ich in meinem Leben überhaupt nichts mehr zu sagen.» - «Ich hoffe, der Typ beeilt sich ein bißchen mit dem Sterben.» So etwas sagen nette, anständige Leute einfach nicht öffentlich, und schon gar nicht zu den lieben Kranken.
Bedenken wir aber, daß sich unter Zorn und Groll fast immer Liebe verbirgt - sonst hätte der Helfer ja schon längst das Weite gesucht. Nur kann diese Liebe sich nicht äußern, solange Zorn und Groll ihr den Weg verstellen. Wie Gibran sagt: »Haß ist hungernde Liebe.» In solchen Selbsthilfegruppen kommt viel Haß nach oben, aber nur weil darunter soviel Liebe ist, hungernde Liebe. Wenn nicht, dann würde man diesen Menschen nicht hassen, er wäre einem einfach egal. Meiner Erfahrung nach ist es bei den meisten Helfern (mich selbst eingeschlossen) nicht so, daß sie nicht genug Liebe bekommen; es fällt ihnen in der schwierigen Lage des Helfers und Versorgers vielmehr schwer, sich daran zu erinnern, wie man Liebe gibt. Und da meiner Erfahrung nach vor allem das Geben das ist, was heilt, müssen die Helfer das ausräumen, was der Liebe im Wege steht - Zorn, Groll, Haß, Bitterkeit, sogar Neid und Eifersucht (sie hat jemanden, der sich jederzeit um sie kümmert: mich).
Dafür ist eine Selbsthilfegruppe unschätzbar wertvoll. Wenn man keine findet, oder vielleicht auch zusätzlich, würde ich Einzelpsychotherapie empfehlen, vor allem für den Helfer, aber möglichst auch für den Kranken. Man lernt nämlich bald, daß es ein paar Dinge gibt, die man einfach nicht mit dem Kranken besprechen sollte - und ein paar Dinge, die der Kranke nicht mit dem Helfer besprechen sollte. Es ist in meiner Generation sehr viel von Offenheit die Rede und davon, daß insbesondere Partner immer alles aus­sprechen sollten, was sie am anderen stört. Wenig empfehlenswert. Natürlich ist Offenheit wichtig und nützlich - bis zu einem gewissen Grade. Aber sie kann auch eine Waffe sein, mit der man verletzt, und dann heißt es: «Aber ich sag‘s doch nur, wie es ist.» Mir war die ganze Lage, in die Treyas Krebs uns beide gebracht hatte, ziemlich verhaßt; man mag das durchblicken lassen, aber es tut weder ihr noch mir gut, wenn ich meinen Arger ständig bei ihr ablade. Ihr macht die Sache auch keinen Spaß, und schließlich ist sie ja nicht schuld daran. Trotzdem bin ich natürlich voller ärger und Groll. Deshalb bezahlt man einen Therapeuten und lädt bei ihm alles ab. Dadurch gewinnt man einen Freiraum, in dem man ohne den unausgesprochenen Groll des Helfers und ohne die heimlichen Schuld- und Schamgefühle des Kranken zusammensein kann. Man hat das einfach größtenteils schon in der Gruppe oder beim Therapeuten abgeladen. Man erlernt dabei auch die behutsame Kunst der schonungsvollen Lüge, die viel besser ist als das ach so ehrliche, in Wahrheit egoistische und rücksichtslose Herausplatzen mit seinen wahren Gefühlen. Keine großen, nur kleine diplomatische Lügen sind hier verlangt, die echte Schwierigkeiten nicht vertuschen, aber eben verhindern, daß man um der «Ehrlichkeit» willen immer wieder in das Wespennest ungelöster und unlösbarer Probleme sticht.
An manchen Tagen hat man die Nase besonders voll vom Versorgerdasein, und wenn der geliebte Mensch dann fragt: «Wie geht es dir heute?», dann sagt man nicht: «Sauschlecht, mein Leben gehört mir nicht mehr, und am liebsten möchte ich von der Brücke springen.» Das mag die Wahrheit sein, aber sie taugt nichts. Wie wäre es mit:
«Ich bin müde, Liebes, aber ich steh es schon durch.» Dann nichts wie hin zur Gruppe oder zum Therapeuten und raus damit. überhaupt nichts ist damit gewonnen, dem geliebten Menschen etwas um die Ohren zu hauen, mag es noch so «aufrichtig» sein. Eines der merkwürdigsten Dinge, die ich über die Rolle des Helfers gelernt habe, ist dies: Der Job besteht nicht in erster Linie darin, Rat zu geben, bei Problemlösungen zu helfen, nützlich zu sein, Essen zu kochen, den Kranken herumzufahren und so weiter; der größte Teil des Jobs besteht vielmehr darin, als emotionaler Schwamm bereitzustehen. Der geliebte Mensch wird angesichts seiner möglicherweise tödlichen Krankheit immer wieder von sehr heftigen Gefühlen geschüttelt, manchmal sogar überschwemmt - Angst, Entsetzen, Wut, Hysterie, Schmerz. Und der Helfer hat den geliebten Menschen einfach zu halten, bei ihm zu sein, soviel von diesen Emotionen zu absorbieren, wie er kann. Man braucht nichts zu sagen (es gibt sowieso nichts zu sagen, was helfen wurde), man braucht nichts zu tun. Man muß nur da sein und Schmerz und Angst und Weh einatmen. Man ist wie ein Schwamm.
Als Treya krank wurde, dachte ich, ich brauchte die Sache nur richtig zu managen, das Richtige zu sagen, bei der Wahl der Therapien zu helfen und so weiter, dann würde alles gleich besser werden. Das wa­ren gewiß Hilfen, aber sie reichten nicht weit. Wenn etwa eine besonders schlechte Nachricht kam, neue Metastasen zum Beispiel, und Treya weinte, dann legte ich sofort los: «Schau, noch ist es ja gar nicht sicher, da brauchen wir erst noch weitere Untersuchungen; und außerdem deutet nichts darauf hin, daß das an deiner Therapie etwas ändert» und so weiter. Aber das war es nicht, was Treya brauchte. Daß ich mit ihr weinte, das brauchte sie, und so tat ich es schließlich:
ihre Gefühle empfinden, sie auf saugen und dadurch so weit wie mög­lich zerstreuen. Ich glaube, das geschieht auf einer ganz körperlichen Ebene; man kann dabei auch reden, aber es ist nicht entscheidend.
Man hat jedenfalls bei schlechten Neuigkeiten als Helfer zu­nächst das Bedürfnis, dem Kranken seine Angst und sein Entsetzen auszureden. Das ist alles in allem die falsche Reaktion. Zunächst einmal fühlt man sich ein und fühlt mit. Wie entscheidend wichtig das ist, wurde mir nach und nach klar: einfach bei dem anderen sein und keine Angst vor seiner Angst oder seinem Schmerz oder seiner Wut zu haben, hochkommen zu lassen, was hochkommen will, und vor allem nichts zu unternehmen, was den anderen von seinen quälenden Empfindungen befreien soll. Ich neigte immer dann zu die­ser Art des «Helfens», wenn ich mit Treyas oder meinen Gefühlen nicht konfrontiert sein wollte, wenn ich mich ihrer nicht einfach und direkt und unkompliziert annehmen mochte, kurz, wenn ich sie los sein wollte. Ich wollte kein Schwamm sein, ich wollte der sein, der die Situation rettet. Ich mochte mir meine Hilflosigkeit angesichts des Unbekannten nicht eingestehen. Ich hatte soviel Angst wie Treya.
Einfach ein Schwamm sein, das gibt einem das Gefühl, hilflos und unnütz zu sein, weil man ja nichts tut (so zumindest kommt es einem vor). Und das zu lernen fällt vielen Menschen so schwer. Mir ganz bestimmt. Ich brauchte fast ein Jahr, bis ich aufhörte, die Dinge in Ordnung bringen oder bessern zu wollen, und einfach bei Treya sein konnte. Daran, glaube ich, liegt es, daß «niemand sich für chronische Dinge interessiert»: Man kann da gar nichts tun, man kann nur dasein. Wenn die Leute also meinen, sie müßten etwas tun, um einem zu helfen, und ihr Tun hilft dann nicht, dann wissen sie nicht weiter. Was kann ich tun? Nichts, sei einfach da.
Wenn man mich fragt, was ich tue, und ich gerade nicht in Plau­derlaune bin, dann sage ich meist: «Ich bin eine japanische Haus­frau», und sehe verblüffte Gesichter. Aber so ist es: Als Helfer hat man still zu tun, was der Partner möchte. Für Männer ist das ein ziemlicher Brocken; für mich war es jedenfalls einer. Ich mag wohl zwei Jahre gebraucht haben, bis es mich nicht mehr störte, daß Treya bei jeder Auseinandersetzung oder Entscheidung die Trumpfkarte in der Hand hatte: «Aber ich habe Krebs.» Mit anderen Worten: Sie setzte fast immer ihren Willen durch, und mir blieb nichts weiter, als mich zu fügen wie ein gutes Hanf rauchen.
Es macht mir jetzt nicht mehr so viel aus. Erstens gebe ich nicht mehr bei allem, was Treya entscheidet, automatisch nach, vor allem dann nicht, wenn ich ein falsches Urteil dahinter vermute. Früher habe ich mich, weil es für sie offenbar so wichtig war, meist gefügt, selbst wenn ich meine wahren Empfindungen dazu verleugnen mußte. Heute sieht es eher so aus: Wenn Treya dabei ist, eine wichtige Entscheidung zu treffen, etwa im Hinblick auf eine neue Thera­pie, dann sage ich ihr meine Meinung dazu, auch wenn es eine an­dere ist, so deutlich und nachdrücklich ich kann - bis zu dem Moment, wo sie sich endgültig entschieden hat. Von da an stelle ich mich hinter sie und gebe ihr alle Unterstützung, die ich bieten kann. Alle weiteren Einwände würden sie jetzt nur noch quälen und ihre Zuversicht untergraben. Und sie hat genügend andere Probleme, da braucht sie dieses nicht auch noch.
Und zweitens, wenn es um den Alltag geht, macht es mir nicht mehr so besonders viel aus, das gute Hausfrauchen zu sein. Ich ko­che, putze, spüle Geschirr, wasche, kaufe ein. Treya schreibt wirklich pfundige Briefe, macht Kaffee-Einläufe und schluckt alle zwei Stunden händeweise Pillen - und einer muß ja den ganzen Kram erledigen, oder?...
Die Existentialisten haben recht, wenn sie sagen, daß wir in unserem eigenen Bereich zu den einmal gefällten Entscheidungen zu ste­hen haben; unsere Entscheidungen formen unser Schicksal oder, wie die Existentialisten es ausdrücken: «Wir sind unsere Entschei­dungen.» Wenn wir nicht zu unseren eigenen Entscheidungen stehen, dann ist das «Treulosigkeit» und führt zu «unauthentischem Sein».
Mir wurde das durch eine sehr simple Erkenntnis klar: Ich hätte an jedem Punkt dieses schweren und schwierigen Prozesses ausstei­gen können. Niemand kettete mich auf den Krankenhausstationen an, niemand bedrohte mein Leben, falls ich ging, niemand zwang mich. Irgendwo tief in mir hatte ich ein für allemal entschieden, daß ich durch dick und dünn und für immer bei dieser Frau bleiben würde, daß ich sie durch diese Sache begleiten würde, komme, was wolle. Aber irgendwann im zweiten Jahr dieser Zerreißprobe vergaß ich meine Entscheidung (obwohl sie irgendwo weiterhin Bestand hatte, sonst wäre ich ja gegangen). In diesem Vergessen war ich treulos und unauthentisch - und so brachen denn auch gleich Vor­würfe und Selbstmitleid los. Inzwischen ist mir das alles sehr klar geworden...
Es fällt mir nicht immer leicht, zu dieser oder überhaupt zu mei­nen Entscheidungen zu stehen. Es ist nämlich durchaus nicht ge­sagt, daß die Dinge dadurch besser oder leichter werden. So ähnlich denke ich, ist es, wenn man sich freiwillig zu einem Stoßtruppunternehmen meldet und dann eine Kugel abkriegt. Die Teilnahme war meine eigene freie Entscheidung, aber diese Verwundung nicht. Und so fühle ich mich manchmal ein bißchen verwundet und bin darüber nicht gerade froh; aber ich habe mich freiwillig gemeldet, es war meine eigene Entscheidung, und ich würde es wieder tun, auch in dem Wissen, was mir da blühen kann. Deshalb bekräftige ich meine Entscheidung jeden Tag. Jeden Tag treffe ich die Wahl neu. Dadurch verdichten sich negative Gefühle nicht zu Schuldzuweisungen und Selbstmitleid, und Schuldgefühle häufen sich nicht an. Die Sache an sich ist simpel, aber die simpel­sten Dinge im realen Leben tatsächlich anzuwenden, das ist meist schwierig...
Ich finde jetzt nicht nur allmählich zum Schreiben zurück, sondern auch zur Meditation. Dabei geht es ja um nichts anderes, als sterben zu lernen (nämlich dem gesonderten Ich oder Ego zu ster­ben), und Treyas möglicherweise tödliche Krankheit ist ein ungeheurer Ansporn für das meditative Gewahrsein. Wenn man diese wahllose Aufmerksamkeit, dieses reine Betrachten, von Moment zu Moment aufrechterhält, sagen die Weisen, dann ist der Tod nur ein Augenblick wie irgendein anderer, und so nimmt man ihn auch, schlicht und direkt. Man scheut den Tod nicht, man klammert sich nicht ans Leben - beide sind nur vorübergehende Erfahrungen.
Der buddhistische Begriff der »Leere» hat mir sehr geholfen. Leere (shünyatä) ist kein Vakuum, kein Nichts, sondern bedeutet soviel wie reine Offenheit, ungehindert und spontan; Leere ist auch eng verwandt mit Vergänglichkeit oder Flüchtigkeit (anitya). Und die Buddhisten sagen: Die Wirklichkeit ist leer, es gibt nichts von absoluter Dauer, woran du Halt, worin du Sicherheit finden könntest. Im Diamant-Sütra heißt es: «Das Leben ist wie eine Blase, ein Traum, eine Spiegelung, ein Trugbild.» Es geht darum, sich nicht an das Trugbild zu klammern, sondern loszulassen, weil es doch nichts gibt, woran man letztlich Halt fände. Treyas Krebs erinnert mich ständig daran, daß der Tod ein großes Loslassen ist, aber man muß nicht auf den physischen Tod warten, um wirklich loszulassen, jetzt und jetzt und jetzt. Um den Kreis zu schließen: Wenn man im wahllosen, das heißt von aller Voreingenommenheit freien Gewahrsein lebt, sagen die Mystiker, dann ist das Handeln in dieser Welt ein Handeln ohne Ego, ohne Ichbezogenheit. Oder anders herum: Wenn man dem Ichbewußtsein sterben (es transzendieren) will, muß man dem ich­bezogenen, eigennützigen Handeln sterben. Man muß also das tun, was die Mystiker selbstloses Dienen nennen. Man muß anderen die­nen, ohne einen Gedanken an das eigene Ich oder an Lob - einfach lieben und dienen, oder wie Mutter Teresa sagt: «Lieben, bis es weh tut.»
Anders gesagt, man wird ein gutes Frauchen.
Und da stehe ich also, koche das Abendessen und spüle das Ge­schirr ab. Versteht mich nicht falsch, ich bin noch weit entfernt von Mutter Teresas Haltung, aber ich sehe mein Helferdasein doch immer mehr als zum selbstlosen Dienen und daher zu meiner spirituellen Entwicklung gehörend, eine Art Meditation des Handelns, des Handelns aus Barmherzigkeit. Ich bin noch kein Meister dieser Kunst, ich jammere und stöhne noch, ich werde auch böse und verfluche die Umstände; und Treya und ich denken manchmal halb im Scherz, halb im Ernst daran, uns bei den Händen zu nehmen, von der Brücke zu springen und diesem ganzen Witz ein Ende zu machen.
Und überhaupt würde ich lieber schreiben.

Brief von Ken Wilber (amerikanischer Philosoph), dessen Ehefrau an Krebs sterben wird.
Aus dem Buch "Mut und Gnade" von Ken Wilber