Liebe Kirsten,
Du bist nahe am Übergang und willst verständlicherweise nur noch deine Familie um dich herum sehen. Deshalb wähle ich den schriftlichen Weg um dir noch etwas mitzuteilen.
Ich finde es immer wieder genial, wenn man auf Verstorbene einen wunderbaren Nachruf (de mortuis nihil nisi bene) verfasst, und auf der anderen Seite es dem, den es betrifft es zu Lebzeiten vorenthält. Deshalb schicke ich dir einen noch Vor- (statt Nach-) Ruf von mir.
Dass ich dich sehr mag, muss ich – glaube ich – nicht extra erwähnen und betonen. Insofern ist dies auch eigentlich mehr ein Liebesbrief als das was ich vorher erwähnt habe. Ein Liebesbrief an einen wundervollen und sehr besonderen Menschen.
Als erstes verneige ich mich vor deinem Schicksal, das dich relativ früh sterben lässt.
Als zweites teile ich dir mit, dass es für mich ganz schön ist, dich zu kennen und deinen Lebensweg von Anfang (na ja, nicht ganz Anfang – von der Zeugung habe ich nichts gewusst) an begleiten zu dürfen. Als du dann nach genügender Reife beschlossen hattest den Bauch deiner Mutter zu verlassen, war ich (so wird berichtet) der erste, aus dem persönlichen Umfeld, der deine Mama und dich beglückwünsche. Das ist schon etwas Besonderes, auch dass ich irrtümlich für dein Vater gehalten und vom Gynäkologen beglückwünscht wurde. Vielleicht wurde unsere Beziehung durch diese "frühkindliche Prägung" ja auch etwas Besonderes. Zumindest habe ich es so empfunden. Ich habe deine Offenheit mir gegenüber immer als ein Geschenk betrachtet und es nicht für selbstverständlich genommen.
Als drittes mache ich dir ein großes Kompliment, für das, was du in deinem Leben geschafft hast. Deine Berichte über deine Arbeit und dein Leben haben mich tief beeindruckt. Es war ein großer Respekt und durchaus auch Liebe zu spüren, die du den Menschen entgegengebracht hast, die dir begegnet sind im Laufe eines Lebens und Berufslebens. Gerade hier habe ich einige Vergleichsmöglichkeiten und ich kann die sagen, du schneidest hervorragend ab.
Als viertes verneige ich mich vor dir in Hochachtung, wie du mit deiner jetzigen Situation umgehst. Mit welcher Klarheit du die ganze Sache anschaust, du deine Entscheidungen triffst und sie verkündest und mit welchem Mut du deinen Weg gehst.
Ich habe mich über viele Jahre immer wieder in meinen Gedanken mit meinem Lebensende auseinandergesetzt – und ich wüsste nicht was ich besser machen könnte.
Ich wünsche dir, dass du die Liebe der Menschen, die dir nahe sind und ganz besonders deiner Familie spüren kannst, und dich dieses Spüren auch trägt in dieser Situation des Übergangs, des Sterbens.
In Liebe und Verbundenheit
Jens