Lektion der Angst

Christopher Landon, der Sohn des verstorbenen Schauspielers Michael Landon, war sechzehn Jahre alt, als sein Vater 1991 starb. Christopher sprach darüber, wie der Verlust seines Vaters sich auf ihn ausgewirkt hatte, und über seine ängste: »Wie Sie sich denken können, war sein Tod ein ungeheurer Schlag für mich. Ich denke mit solcher Sehnsucht an ihn zurück. Mein Vater war so klug, so charmant und geistreich. Er hatte viele Seiten - die das Publikum nicht sehen konnte -‚ die seine ganze Person ausmachten, wie ich sie kannte.
Sein Tod war das bedeutendste Ereignis in meinem Leben. Ich wurde dadurch ein anderer Mensch. Als Kind war ich immer sehr introvertiert, schüchtern und unsicher gewesen. Wenn man bei einem Menschen von überlebensgroßem Format aufwächst, steht man immer in dessen Schatten. Dann wurde dieser Schatten eines Tages weggerissen.
Als ich merkte, dass nach seinem Tod viele meiner ängste schwanden, fing ich an, über den Tod im Allgemeinen nachzudenken. Wenn man jemanden liebt, und dieser Mensch stirbt, gewinnt man zum ersten Mal eine Beziehung zum Tod. Man kommt ihm nahe, man fürchtet sich weniger vor ihm, weil man dabei war. Ich war bei meinem Vater, als er starb und auch nachdem er gestorben war. Ich habe den Tod berührt, und er berührte mich. Das ist jetzt Wirklichkeit für mich, ganz handgreiflich. Sie macht mir außerdem weniger Angst. Alles macht mir jetzt weniger Angst. Ich fürchte mich nicht mehr vor den Dingen, die mich ängstigten, bevor mein Vater starb. Ich hatte solche Angst vor dem Fliegen, dass ich mich ganz verkrampfte. Mein Papa lachte immer darüber. Als er tot war, ließen diese Angst und viele andere ängste nach. Ohne mir dessen bewusst zu sein, fing ich an, Dinge zu tun, die mir überhaupt nicht ähnlich sahen. Ich begann mich zu behaupten und tat Dinge, die ich zuvor nie getan hatte.
Wenn ich früher an einem Scheideweg stand oder wenn sich mir eine Chance bot, die ich hätte ergreifen können, schreckte ich immer davor zurück. Ich hatte Angst, zu versagen und wie ein Idiot dazustehen. So ignorierte ich gewöhnlich die Gelegenheit.
Dann starb mein Vater, und ich sah plötzlich dem Tod ins Auge. Ich begriff, dass man nie weiß, wann man sterben wird, und dass man sich jeder Herausforderung mit dieser Einsicht stellen sollte. Ich begann mich in meiner Haut wohler zu fühlen. Ich hatte keine Angst mehr vor mir selbst, vor dem, der ich bin und der ich werden könnte. Ich begann, Risiken einzugehen und etwas zu unternehmen. Nicht, dass ich aus dem Flugzeug sprang oder irgendetwas Drastisches tat, aber ich ging von zu Hause fort und besuchte eine Schule in England. Das war ein großer Schritt für mich, die Bequemlichkeit und Sicherheit meines Zuhauses hinter mir zu lassen. Ich habe gelernt, mich in etwas hineinzustürzen und zu beobachten, was geschehen würde. Das war für mich ein riesiger Schritt. Ich bin überzeugt davon, dass Schmerz sich irgendwie in Wachstum umsetzen lässt.«
Wie wäre es, wenn wir ein Risiko eingingen, wenn wir unsere ängste konfrontieren würden? Wie wäre es, wenn wir unsere Träume verwirklichten, unserer Sehnsucht folgten? Wie wäre es, wenn wir uns gestatteten, die Liebe frei zu erleben und Erfüllung in unseren Beziehungen zu suchen? Was für eine Welt wäre das? Eine Welt ohne Angst. Man glaubt es vielleicht nicht, aber das Leben hat so viel mehr zu bieten, als wir uns zu erfahren erlauben. So viel mehr ist möglich, wenn Angst uns nicht mehr gefangen hält. Draußen und in unserem Inneren ist eine neue Welt - in der es weniger Angst gibt -‚ die nur darauf wartet, entdeckt zu werden.
Angst ist ein Warnsystem, das uns auf einer elementaren Stufe des Lebens gute Dienste leistet. Wenn wir spät Abends in einem gefährlichen Stadtteil unterwegs sind, warnt uns die Angst, uns vor der realen Möglichkeit eines überfalls in Acht zu nehmen. In potenziell gefährlichen Situationen ist Angst ein Zeichen von Gesundheit. Ohne sie würden wir nicht lange überleben.
Aber man gerät leicht in einen Angstzustand, wo keine Gefahr besteht. Diese Art von Angst ist eine Einbildung, etwas Irreales. Das Gefühl mag real erscheinen, aber es hat keine Basis in der Wirklichkeit. Trotzdem bewirkt diese Angst, dass wir nachts wach liegen, und hält uns vom Leben ab. Sie scheint keinen Zweck und kein Erbarmen zu haben, sie lähmt uns und schwächt den Geist, wenn man sich ihr überlässt. Sie wird mit dem Akronym »FEAR« (Angst) zusammengefasst: »False Evidence Appearing Real« (Falsche Beweise mit dem Anschein von Realität). Dieser Typ von Angst beruht auf der Vergangenheit und löst Angst vor der Zukunft aus. Doch diese eingebildeten ängste haben auch ihr Gutes: Sie geben uns die Gelegenheit zu lernen, uns bewusst für die Liebe zu entscheiden. Sie sind der Aufschrei unserer Seele, die nach Wachstum und Heilung verlangt. Sie sind die Gelegenheit, uns neu zu entscheiden, es anders zu machen, die Liebe zu wählen statt der Angst, die Wirklichkeit statt der Illusion, das Jetzt statt der Vergangenheit. Wenn wir zur Beförderung unseres Glücks in diesem Kapitel von Angst sprechen, dann meinen wir diese eingebildeten ängste, die unser Leben weniger lebenswert machen.
Wenn wir imstande sind, durch unsere ängste hindurchzugehen und die zahlreichen Gelegenheiten zu nützen, können wir das Leben führen, von dem wir nur träumten. Wir können frei von Urteilen leben, ohne Angst vor der Missbilligung anderer und ohne uns zurückzunehmen.

Kate, eine energische Frau Mitte fünfzig, erzählte von ihrer Zwillingsschwester Kim. »Vor zehn Jahren erfuhr Kim, dass sie Darmkrebs hatte. Zum Glück war er nicht sehr virulent und wurde früh erkannt. Abgesehen davon, dass ich das Gefühl hatte, ein Teil von mir würde sterben, wenn Kim starb, war ich tief erschüttert von ihrer Krankheit - und ihrem Leben. Wir waren eineiige Zwillinge und wussten voneinander alle Fakten unseres Lebens und kannten auch unsere Gefühle. Und ich erkenne jetzt, wie die Angst sie und mich davon abhielt zu leben, lange bevor ihr Krebs ausbrach. Jetzt blicke ich auf unser Leben zurück und erkenne, wie viel Angst wir hatten. Als wir in Hawaii waren, wollten wir den Hula-Hula tanzen lernen, aber wir fürchteten, dass wir dabei blöd aussehen würden. Zehn Jahre lang arbeiteten wir für eine Catering-Firma. Wir hatten uns immer gewünscht, ein eigenes Restaurant aufzumachen, aber wir fürchteten, dass wir es nicht schaffen würden, und so haben wir uns diese Idee nicht einmal weiter überlegt. Nach meiner Scheidung dachten wir daran, eine Schiffsreise zu machen. Aber wir taten es nicht, weil wir Angst davor hatten, allein zu fahren.
Jetzt ist unser Leben völlig anders. Wir dachten immer, dass wir uns vor etwas fürchten müssten. Als wir uns mit Kims Krankheit und ihrer Operation auseinandersetzten, sind wir durch unsere größte Angst hindurchgegangen. Wenn wir das überlebt haben, wovor sollten wir noch Angst haben? Ich sehe jetzt ein, dass das meiste, vor dem wir uns fürchten, ohnehin nicht eintrifft. Unsere ängste haben gewöhnlich keinen Bezug zu dem, was uns wirklich geschieht.«

Aus "Geborgen im Leben" Elisabeth Kübler Ross und David Kessler